Guido Gazzilli – Home ist Home (All Alone)

Besprechen

„Take me out tonight/because I want to see people/and I want to see life “. Man öffnet das Buch „Home is Home (All Alone)“ und gleich auf einer der ersten Seiten blickt einen Morrissey entwaffnend an, lässig an eine Wand gelehnt und man möchte sich automatisch vor dem Helden verbeugen, um ihm endlich, endlich danke sagen zu können für seine Songs, die plötzlich da waren und nie wieder gegangen sind, „There Is a Light That Never Goes Out“. Und alles scheint in diesem Moment sehr leicht und sehr hell. Der Smiths-Song ist so großartig und das Licht, ganz sicher, es wird niemals ausgehen. Doch einen Moment später erstirbt die Musik und dunkle Schleier schieben sich über Morrissey, und man erinnert sich schmerzhaft, wie dieser Held schon vor langer Zeit gefallen ist, weil er politisch auf Abwege geriet. Aber das Porträt ist einfach dennoch großartig. Sein Autor ist der italienische Fotograf Guido Gazzilli, dem es gelingt, die dem Sänger tief innesitzende misanthrope Haltung für den Moment auszusieben.

In Gazzillis Bilderbogen geht das Licht zwar nicht aus, aber es wird gnadenlos runtergedreht. Das umfangreiche, aber niemals langatmige Buch kriegt somit einen sehr eigenen, überaus elegischen Vibe, man merkt von Seite Eins an, dass hier jemand eine Dringlichkeit verspürt, unverstellt von sich und jenen existentiellen Nöten, die ihn umgeben, erzählen zu wollen. Wir können uns mitziehen lassen in die Beobachtungs- und Fragewelt des umher mäandernden Fotografen, der sich in Clubs, in Schlafzimmern, in Kneipen, in verlassenen Kinosälen und an versehrt aussehenden Orten mit ebensolchen Bewohnern bewegt.
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Das Leben ist eine Modellbaustelle  

Verwirklichen

Die Arbeiten von Frank Kunert sind doppelbödig wie das Leben selbst. Wer das erste Mal eines seiner Fotos betrachtet, wird möglicherweise entzückt, dann zunehmend irritiert und am Ende mit sattem Erkenntnisgewinn ausgestattet sein. Frank Kunerts Welt ist klein, vor allem ist sie aber oho: Die Hinterfragung der Conditio humana dient dem Künstler als ständige Antriebsfeder, um seine ganz eigenen Interpretationen der Welt in Modelle zu überführen und diese fotografisch zu erfassen. Ein Gespräch zwischen Weltenerschaffer Frank Kunert und Weltendeuter Peter Lindhorst über Baustellen, Höhenangst, Widersprüche des Lebens, Scheitern als Chance und darüber, warum man sich selbst ab und zu Gutes tun sollte.

Peter Lindhorst: Es gibt diese symbolische Szene, die Deinem neuen Buch den Titel gibt. Eine steile Treppe führt zu einer Tür, über der die berühmte Sentenz von Horaz steht: CARPE DIEM. Das ist die Tür, die wir jeden einzelnen Tag öffnen. Hinter der Tür aber – es kommt auf die Verfasstheit des Betrachtenden an – erwartet diesen ein schöner Ausblick oder ein drohender Abgrund. Bauen wir mal Frank Kunert in die Szene ein: Auf was würde der die Treppe hocheilende und durch die Tür tretende Künstler mehr anschlagen – auf den überraschenden Genuss der Kulisse oder den Abgrund, der sich so unvermittelt auftut? 
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WHERE THE STREETS HAVE NO NAME

Begeistern

WHERE THE STREETS HAVE NO NAME

Ein Text zum Buch „Ich werde nie mehr allein sein“ mit Fotos von Nele Heitmeyer

Wenn mir alles zu viel wird, suche ich das Kino auf. Dann bin ich für die Welt verloren, denn Kino ist alles, was die Welt nicht ist. Manchmal steige ich aber auch in einen Zug und lass mich einfach wegtragen aus meiner Welt. Meine Kreise ziehe ich bewusst klein. So fahre ich ziellos und weiß nur, dass ich nach einer Stunde aussteigen werde. Hier ist alles, was ich nicht bin. Mich erwartet oft als erstes ein kleines Bahnhofsgebäude, das seine ursprüngliche Funktion als Fahrkartenverkaufsraum, Aufenthaltsort für Fahrgäste und Wohnung für einen Bahnhofsvorsteher lange aufgegeben hat und zu verfallen droht oder unwürdig zweckentfremdet ist.

Manchmal höre ich Schlagermusik aus dem Ankunftsgebäude dröhnen, woraufhin ich um das Haus herum gehe und einen übriggebliebenen Gaststättenbetrieb bemerke, in dem Menschen sich die Zeit vertreiben. Immer wieder lassen sie sich die Biergläser füllen, während sie auf den nächsten Zug warten oder darauf, dass irgendetwas passiert. Neugierige Blicke streifen mich, wenn ich die Tür öffne und mich an die Theke setze, um meine Bestellung aufzugeben. Dann werde ich angesprochen und beantworte bereitwillig die Fragen, die einem Fremden gestellt werden. „Was macht so einer, der aus der Großstadt kommt, ausgerechnet hier?“ Mir fällt keine Erwiderung ein, die logisch klingt, so dass ich schnell mit einer Frage meinerseits abzulenken versuche. „Gibt es hier irgendwas Sehenswertes?“ Mein Gegenüber nimmt einen tiefen Zug aus seinem Glas, denkt länger nach, um mir dann zögernd zu erklären, dass es ein Heimatmuseum gebe, in dem man aber selbst noch nicht war. Am Ortsausgang sei eine alte Eiche und nicht weit davon entfernt eine Wassermühle. Die sei ganz okay. Ich trinke schnell aus, danke überschwänglich für die Inspiration und springe nach draußen, froh, der Schlager-Bier-Hölle zu entkommen.
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Why animals?

Begeistern

„Why animals? “ fragt Kai Cassuben im Titel der neuen Publikation, das als Nr. 44 seines Zines „synokrym“ erschienen ist. Tief hat er die Nase in die eigenen Familienalben gesteckt und plötzlich Fotos entdeckt, die vom eigenen kindlichen Erstaunen für haarige Vierbeiner oder Schnabeltier erzählen.

Ob auf sonntäglichen Serengetis in das nahegelegene Wildgehege oder bei Ferienreisen an den Gardasee – die Agfa Click II ist ein verlässlicher Begleiter des damals noch sehr jungen Fotografen und kommt gerne dann zum Einsatz, wenn sich vor seiner Linse Aufregendes aus dem Reich der Tierwelt abspielt. Hunde, Enten, als Höhepunkt die Begegnung mit einem Bären aus dem Tierpark, der seine mächtige Pranke an die Scheibe eines Gefährtes drückt. Der junge Kai bleibt in diesem Moment mutig und vergisst bei aller Aufregung nicht, auf den Auslöser zu drücken.

Why animals? Warum denn nicht, möchte man da gerne zurückfragen. Zumindest dann, wenn man eine solch anrührende Auswahl wie in diesem kleinen Album präsentiert bekommt. Großes Tierkino!

20 Seiten mit 13 Fotos; 15 x 15 cm, geheftet; Fotos: Kai Cassuben; Text: Peter Lindhorst.