WHERE THE STREETS HAVE NO NAME

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WHERE THE STREETS HAVE NO NAME

Ein Text zum Buch „Ich werde nie mehr allein sein“ mit Fotos von Nele Heitmeyer

Wenn mir alles zu viel wird, suche ich das Kino auf. Dann bin ich für die Welt verloren, denn Kino ist alles, was die Welt nicht ist. Manchmal steige ich aber auch in einen Zug und lass mich einfach wegtragen aus meiner Welt. Meine Kreise ziehe ich bewusst klein. So fahre ich ziellos und weiß nur, dass ich nach einer Stunde aussteigen werde. Hier ist alles, was ich nicht bin. Mich erwartet oft als erstes ein kleines Bahnhofsgebäude, das seine ursprüngliche Funktion als Fahrkartenverkaufsraum, Aufenthaltsort für Fahrgäste und Wohnung für einen Bahnhofsvorsteher lange aufgegeben hat und zu verfallen droht oder unwürdig zweckentfremdet ist.

Manchmal höre ich Schlagermusik aus dem Ankunftsgebäude dröhnen, woraufhin ich um das Haus herum gehe und einen übriggebliebenen Gaststättenbetrieb bemerke, in dem Menschen sich die Zeit vertreiben. Immer wieder lassen sie sich die Biergläser füllen, während sie auf den nächsten Zug warten oder darauf, dass irgendetwas passiert. Neugierige Blicke streifen mich, wenn ich die Tür öffne und mich an die Theke setze, um meine Bestellung aufzugeben. Dann werde ich angesprochen und beantworte bereitwillig die Fragen, die einem Fremden gestellt werden. „Was macht so einer, der aus der Großstadt kommt, ausgerechnet hier?“ Mir fällt keine Erwiderung ein, die logisch klingt, so dass ich schnell mit einer Frage meinerseits abzulenken versuche. „Gibt es hier irgendwas Sehenswertes?“ Mein Gegenüber nimmt einen tiefen Zug aus seinem Glas, denkt länger nach, um mir dann zögernd zu erklären, dass es ein Heimatmuseum gebe, in dem man aber selbst noch nicht war. Am Ortsausgang sei eine alte Eiche und nicht weit davon entfernt eine Wassermühle. Die sei ganz okay. Ich trinke schnell aus, danke überschwänglich für die Inspiration und springe nach draußen, froh, der Schlager-Bier-Hölle zu entkommen.

Heute bin ich wieder irgendwo ausgestiegen und losgeschritten, ohne jeden Stopp am gespenstisch-stillen Bahnhofsgebäude vorbei. Ich möchte mich einfach durch die Straßen treiben lassen, ziellos, ohne jede Systematik.  Praktischen Nutzen verfolge ich keinen, sondern ich will höchstens Eindrücke sammeln. Gerne würde ich mich verlaufen, doch es ist vermutlich zu klein hier und ich komme irgendwann immer automatisch dort an, wo ich gestartet bin.

 

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier wie ausgestorben ist. „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung”, formulierte einst der Flaneur Franz Hessel. Dessen Beobachtung bezog sich auf eine geschäftige Metropole. Hier ist der Gegenentwurf. Niemand, der irgendwelche Hast versprühen könnte. Die Straßen sind eng und klein, oft fehlen die Straßenschilder. Kein Hunde-Gassi-Geher, keine Jungmutter, die ihren Kinderwagen über den Gehweg schaukelt, kein Auto, das langsam an einem vorbeigleitet, der Blick der Insassen neugierig auf mich gerichtet, kein Mensch, nirgends. Der Ort wirkt so hermetisch wie abwehrend. Er scheint nicht auf mich gewartet zu haben und will auch nicht von mir betrachtet werden.

Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was ich eigentlich suche, während ich also die Straße entlang flaniere, Bilder sammle und Gedanken ordne. Fenster sind blickdicht verhängt. Manchmal präsentiert sich eine halbvertrocknete Pflanze auf einer Fensterbank. Die Rasenflächen vor den Häusern sind akkurat geschnitten. Mir fällt auf: die widersinnige Gestaltung eines Hauseingangs. Das stümperhaft ausgebesserte Mauerwerk. Thujen, einst von ihren Besitzern als Abgrenzung gepflanzt und seither von jedem Rückschnitt verschont, sind zu monströsen Schutzwällen aufgeblasen, hinter denen sich das Leben vollständig verkrochen hat. Die Fassade eines Hauses ist mit großflächigen Verkleidungspaneelen geschmückt, die verwirrende Symmetrien erzeugen. An den Außenseiten anderer Gebäude sind die Fenster vollständig ausgespart. Abweisung, Irritation und ein Gefühl des Unwirklichen erfasst mich, während ich die Straßen immer wieder rauf- und runterschlendere und die verschiedenen architektonischen Situationen in meinen Gedanken zu ordnen versuche. Ich denke über Charakter und Unverwechselbarkeit, über das Behäbig-Bürgerliche und die Langeweile von Orten nach. „Kaum auf der Straße, rufe ich aus: Wie perfekt ist doch diese Parodie der Hölle!” Dass mir das Zitat von E.M. Cioran plötzlich durch den Kopf schießt, ist der zunehmenden Befremdung geschuldet, die mich erfasst.

Durch das Ausbleiben jeder menschlichen Begegnung empfinde ich eine Art Kulissenhaftigkeit des Ortes, was mich einen sehr kurzen Moment zum Kino zurückbringt. Die Fassaden der Einfamilienhäuser, die Kulissen, aus hohen Hecken geformt, scheinen undurchdringbar. Sie sind Oberfläche, bei deren Anblick der Vorbeigehende auf sich selbst zurückgeworfen ist. Sie sind Hülle, Blendwerk und Simulation zugleich. Als ich an einer Garage vorbeikomme, scheint sich dieser Eindruck nur um so mehr zu bestätigen. Das Tor ist mit einer gemalten Szene einer Heidelandschaft versehen. Gut möglich, dass ich mich also in ein Potemkinsches Dorf verirrt habe. Plötzlich werde ich von einer überaus starken Sehnsucht befallen – nach einer Kneipe mit Schlagermusik, nach menschlicher Begegnung. Ist das alles Attrappe hier? Ungeschickt stolpere ich durch die Kulissen, ich habe genug, kein Mensch, nirgends.

Ich bin wütend auf mich, da ich den Weg zum Bahnhof nicht mehr finde. An einem Mauerwerk hocke ich mich hin, um kurz auszuruhen. Gerade habe ich mich für eine Richtung entschieden und will aufstehen, als ich Löcher in der Wand entdecke, an die ich mich gelehnt habe. Ich weiß nicht warum, aber ich beuge mich vor und blicke durch eines. Was ich dort sehe, lässt mir den Atem stocken.

Nele Heitmeyer. Ich werde nie mehr alleine sein. Hrsg. von Kai Cassuben. 20 Seiten. 21 x 21 cm, Schutzumschlag aus Backsteintapete,  limitierte Auflage (Reihe: synokrym Nr. 56) 20 Euro