„Take me out tonight/because I want to see people/and I want to see life “. Man öffnet das Buch „Home is Home (All Alone)“ und gleich auf einer der ersten Seiten blickt einen Morrissey entwaffnend an, lässig an eine Wand gelehnt und man möchte sich automatisch vor dem Helden verbeugen, um ihm endlich, endlich danke sagen zu können für seine Songs, die plötzlich da waren und nie wieder gegangen sind, „There Is a Light That Never Goes Out“. Und alles scheint in diesem Moment sehr leicht und sehr hell. Der Smiths-Song ist so großartig und das Licht, ganz sicher, es wird niemals ausgehen. Doch einen Moment später erstirbt die Musik und dunkle Schleier schieben sich über Morrissey, und man erinnert sich schmerzhaft, wie dieser Held schon vor langer Zeit gefallen ist, weil er politisch auf Abwege geriet. Aber das Porträt ist einfach dennoch großartig. Sein Autor ist der italienische Fotograf Guido Gazzilli, dem es gelingt, die dem Sänger tief innesitzende misanthrope Haltung für den Moment auszusieben.
In Gazzillis Bilderbogen geht das Licht zwar nicht aus, aber es wird gnadenlos runtergedreht. Das umfangreiche, aber niemals langatmige Buch kriegt somit einen sehr eigenen, überaus elegischen Vibe, man merkt von Seite Eins an, dass hier jemand eine Dringlichkeit verspürt, unverstellt von sich und jenen existentiellen Nöten, die ihn umgeben, erzählen zu wollen. Wir können uns mitziehen lassen in die Beobachtungs- und Fragewelt des umher mäandernden Fotografen, der sich in Clubs, in Schlafzimmern, in Kneipen, in verlassenen Kinosälen und an versehrt aussehenden Orten mit ebensolchen Bewohnern bewegt.
Er zeigt uns bekannte Musikmachende wie Jonathan Richmann oder Caribou, porträtiert seine Freunde und Geliebten oder aber Außenseiter, denen er zufällig in der Nacht begegnet, Tänzerinnen, Kneipengänger oder Obdachlose. Alle Porträts sind von einer eigenartigen Intensität und selbst eine Statue, die mit Graffitis übersät ist oder der Hund, der auf dem Boden liegt, entwickeln diese ungeheure Bildkraft. Manchmal bewegt sich die Erzählung des Fotografen raus aus dem Labyrinth der Stadt, den Kneipen, den Hinterhöfen, der eigenen Kammer in die Weite der Landschaft. Pulsierende Orte werden mit einsamen Plätzen getauscht. Ein Blick aufs Meer, in den Wald, auf die Bergkuppe. Ob hier die Linderung zu erwarten ist für eine innewohnende Erschöpfung? Einmal schwebt ein Elefant rätselhaft durch die Luft. Überhaupt ist vieles rätselhaft – etwa jener Ort, unscharf wie durch Milchglas erkennbar. Vielleicht ein Bahnhof oder Flughafen. Überall strömen Menschen, alles scheint in Bewegung, aber unser Blick wird magnetisiert von einem Paar, das für sich in diesem Gewühl den intimen Moment eines Kusses kreiert. So unverbunden und traumartig die Fotos oft auf rein semantischer Ebene erscheinen mögen, so sorgen doch vor allem der Rhythmus und sich wiederholende, bestimmte Motive dafür, dass man sich der dunklen Schönheit der Erzählung einfach nicht entziehen mag. Immer und immer wieder habe ich das Buch durchgeblättert, um die Eindrücke zu erfassen, die sich in der nächsten Sekunde wieder verflüchtigten und doch etwas in mir hinterlassen. Man kann das Vorgeführte nicht richtig greifen und erhält dennoch eine Ahnung.
Der Fotograf versteht sein Buch als eine Art Bild-Diary, in dem er uns die Vielfalt seines Welt-Erlebens und -Erfahrens vorführt. Wie hieß es so schön im Song? „Because I want to see people/and I want to see life”. Auf seine Arbeit angesprochen, sagt Gazzilli, dass es ihn umgetrieben habe, Verbindungen zwischen Menschen und ihren Lebensorten zu erforschen. Es gehe ihm um Beziehungen, private Momente, um Einsamkeit, Misshandlung, Liebe und das Künstlerdasein. All seine Beobachtungen streifen immer wieder existentielle Fragen. Selbstverständlich gibt Gazzilli keine Antworten, aber er hält uns als Betrachtende in einer ständigen Bewegung. (erschienen in Photonews 11/23)
Kehrer Verlag. ISBN 978-3-96900-135-6. 184 S. 126 Fotos. Hc. 44,00 Euro