Nikita Teryoshin-Nothing Personal

Besprechen

Das Buch war in Planung, ich wie auf glühenden Kohlen. Warum ich ihm so entgegenfieberte? Ganz einfach: 1) Ich bekenne, ein Nikita-Teryoshin-Fanboy zu sein. 2) Als Fanboy hatte ich mit Nikita ausgemacht, zum Erscheinen des Buches eine Ausstellung in der FREELENS Galerie zu organisieren. Herzensangelegenheit! Die Arbeit „Nothing Personal“ über Waffenmessen kannte ich schon sehr lange und hatte sie sofort verstanden. Öfters stolperte ich über sie, sah, wie sie anwuchs. Ausschnitte wurden in den cooleren unter den Magazinen oder auf angesagten Blogs präsentiert, mal war die Serie nominiert für den Leica Oskar Barnack Award, dann wurde sie bei World Press Photo ausgezeichnet. Es gab auch erste Ausstellungen dazu. Ich blieb ein aufmerksamer Beobachter.

Jetzt halte ich das schwere, umfangreiche Buch in der Hand, selfpublished, finanziert per Crowdfunding, das in Rekordzeit die benötigte Summe einspielte (es muss andere Fangirls und -boys geben). Edler Look – blaugrauer Leineneinband, aufmontiertes Coverfoto. Schlägt man es auf, gehts unvermittelt los, Szene an Szene, ohne Text zunächst, ohne Bildunterschrift und Erklärung, und auch wenn man die Arbeit wie ich gut zu kennen glaubt, trifft sie einen wie eine Rakete ins Herz. Unangebrachtes Sprachbild, nehme ich zurück, aber der Effekt stimmt. Die Fotos ringen eine starke Reaktion ab. Abwechselnd Staunen, Kopfschütteln, Stöhnen, ein Lachen, das garantiert im Halse steckenbleibt.
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Guido Gazzilli – Home ist Home (All Alone)

Besprechen

„Take me out tonight/because I want to see people/and I want to see life “. Man öffnet das Buch „Home is Home (All Alone)“ und gleich auf einer der ersten Seiten blickt einen Morrissey entwaffnend an, lässig an eine Wand gelehnt und man möchte sich automatisch vor dem Helden verbeugen, um ihm endlich, endlich danke sagen zu können für seine Songs, die plötzlich da waren und nie wieder gegangen sind, „There Is a Light That Never Goes Out“. Und alles scheint in diesem Moment sehr leicht und sehr hell. Der Smiths-Song ist so großartig und das Licht, ganz sicher, es wird niemals ausgehen. Doch einen Moment später erstirbt die Musik und dunkle Schleier schieben sich über Morrissey, und man erinnert sich schmerzhaft, wie dieser Held schon vor langer Zeit gefallen ist, weil er politisch auf Abwege geriet. Aber das Porträt ist einfach dennoch großartig. Sein Autor ist der italienische Fotograf Guido Gazzilli, dem es gelingt, die dem Sänger tief innesitzende misanthrope Haltung für den Moment auszusieben.

In Gazzillis Bilderbogen geht das Licht zwar nicht aus, aber es wird gnadenlos runtergedreht. Das umfangreiche, aber niemals langatmige Buch kriegt somit einen sehr eigenen, überaus elegischen Vibe, man merkt von Seite Eins an, dass hier jemand eine Dringlichkeit verspürt, unverstellt von sich und jenen existentiellen Nöten, die ihn umgeben, erzählen zu wollen. Wir können uns mitziehen lassen in die Beobachtungs- und Fragewelt des umher mäandernden Fotografen, der sich in Clubs, in Schlafzimmern, in Kneipen, in verlassenen Kinosälen und an versehrt aussehenden Orten mit ebensolchen Bewohnern bewegt.
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Das Leben ist eine Modellbaustelle  

Verwirklichen

Die Arbeiten von Frank Kunert sind doppelbödig wie das Leben selbst. Wer das erste Mal eines seiner Fotos betrachtet, wird möglicherweise entzückt, dann zunehmend irritiert und am Ende mit sattem Erkenntnisgewinn ausgestattet sein. Frank Kunerts Welt ist klein, vor allem ist sie aber oho: Die Hinterfragung der Conditio humana dient dem Künstler als ständige Antriebsfeder, um seine ganz eigenen Interpretationen der Welt in Modelle zu überführen und diese fotografisch zu erfassen. Ein Gespräch zwischen Weltenerschaffer Frank Kunert und Weltendeuter Peter Lindhorst über Baustellen, Höhenangst, Widersprüche des Lebens, Scheitern als Chance und darüber, warum man sich selbst ab und zu Gutes tun sollte.

Peter Lindhorst: Es gibt diese symbolische Szene, die Deinem neuen Buch den Titel gibt. Eine steile Treppe führt zu einer Tür, über der die berühmte Sentenz von Horaz steht: CARPE DIEM. Das ist die Tür, die wir jeden einzelnen Tag öffnen. Hinter der Tür aber – es kommt auf die Verfasstheit des Betrachtenden an – erwartet diesen ein schöner Ausblick oder ein drohender Abgrund. Bauen wir mal Frank Kunert in die Szene ein: Auf was würde der die Treppe hocheilende und durch die Tür tretende Künstler mehr anschlagen – auf den überraschenden Genuss der Kulisse oder den Abgrund, der sich so unvermittelt auftut? 
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WHERE THE STREETS HAVE NO NAME

Begeistern

WHERE THE STREETS HAVE NO NAME

Ein Text zum Buch „Ich werde nie mehr allein sein“ mit Fotos von Nele Heitmeyer

Wenn mir alles zu viel wird, suche ich das Kino auf. Dann bin ich für die Welt verloren, denn Kino ist alles, was die Welt nicht ist. Manchmal steige ich aber auch in einen Zug und lass mich einfach wegtragen aus meiner Welt. Meine Kreise ziehe ich bewusst klein. So fahre ich ziellos und weiß nur, dass ich nach einer Stunde aussteigen werde. Hier ist alles, was ich nicht bin. Mich erwartet oft als erstes ein kleines Bahnhofsgebäude, das seine ursprüngliche Funktion als Fahrkartenverkaufsraum, Aufenthaltsort für Fahrgäste und Wohnung für einen Bahnhofsvorsteher lange aufgegeben hat und zu verfallen droht oder unwürdig zweckentfremdet ist.

Manchmal höre ich Schlagermusik aus dem Ankunftsgebäude dröhnen, woraufhin ich um das Haus herum gehe und einen übriggebliebenen Gaststättenbetrieb bemerke, in dem Menschen sich die Zeit vertreiben. Immer wieder lassen sie sich die Biergläser füllen, während sie auf den nächsten Zug warten oder darauf, dass irgendetwas passiert. Neugierige Blicke streifen mich, wenn ich die Tür öffne und mich an die Theke setze, um meine Bestellung aufzugeben. Dann werde ich angesprochen und beantworte bereitwillig die Fragen, die einem Fremden gestellt werden. „Was macht so einer, der aus der Großstadt kommt, ausgerechnet hier?“ Mir fällt keine Erwiderung ein, die logisch klingt, so dass ich schnell mit einer Frage meinerseits abzulenken versuche. „Gibt es hier irgendwas Sehenswertes?“ Mein Gegenüber nimmt einen tiefen Zug aus seinem Glas, denkt länger nach, um mir dann zögernd zu erklären, dass es ein Heimatmuseum gebe, in dem man aber selbst noch nicht war. Am Ortsausgang sei eine alte Eiche und nicht weit davon entfernt eine Wassermühle. Die sei ganz okay. Ich trinke schnell aus, danke überschwänglich für die Inspiration und springe nach draußen, froh, der Schlager-Bier-Hölle zu entkommen.
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