Das Leben ist eine Modellbaustelle  

Verwirklichen

Die Arbeiten von Frank Kunert sind doppelbödig wie das Leben selbst. Wer das erste Mal eines seiner Fotos betrachtet, wird möglicherweise entzückt, dann zunehmend irritiert und am Ende mit sattem Erkenntnisgewinn ausgestattet sein. Frank Kunerts Welt ist klein, vor allem ist sie aber oho: Die Hinterfragung der Conditio humana dient dem Künstler als ständige Antriebsfeder, um seine ganz eigenen Interpretationen der Welt in Modelle zu überführen und diese fotografisch zu erfassen. Ein Gespräch zwischen Weltenerschaffer Frank Kunert und Weltendeuter Peter Lindhorst über Baustellen, Höhenangst, Widersprüche des Lebens, Scheitern als Chance und darüber, warum man sich selbst ab und zu Gutes tun sollte.

Peter Lindhorst: Es gibt diese symbolische Szene, die Deinem neuen Buch den Titel gibt. Eine steile Treppe führt zu einer Tür, über der die berühmte Sentenz von Horaz steht: CARPE DIEM. Das ist die Tür, die wir jeden einzelnen Tag öffnen. Hinter der Tür aber – es kommt auf die Verfasstheit des Betrachtenden an – erwartet diesen ein schöner Ausblick oder ein drohender Abgrund. Bauen wir mal Frank Kunert in die Szene ein: Auf was würde der die Treppe hocheilende und durch die Tür tretende Künstler mehr anschlagen – auf den überraschenden Genuss der Kulisse oder den Abgrund, der sich so unvermittelt auftut? 

Frank Kunert: Ausblick und Abgrund müssen sich meine Aufmerksamkeit wohl teilen. Zunächst bin ich erst mal froh, dass mir nichts passiert ist. Die Tatsache, dass ich vor dem Öffnen der Tür noch auf die Schiefertafel mit den Tagesangeboten schaue, hat meinen Schritt verlangsamt und somit den sicheren Absturz in die Tiefe verhindert. Um meine Höhenangst nicht zu groß werden zu lassen, halte ich mich am Türrahmen fest. Ich atme tief ein, lasse meinen Blick in die Ferne schweifen und bin fasziniert von dem sich ständig ändernden Wolkenbild. Aber ich spüre gleichzeitig auch Verwunderung über die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen. Denn es wirkt ja so, als bestünde die Gefahrenquelle schon seit einer ganzen Weile.

PL: Höhe scheint also bei Dir ­­– wie übrigens auch bei mir – mit einem Angstgefühl verbunden zu sein. Aber wenn Du an Akrophobie leidest, erstaunt mich, dass viele Deiner Szenen mit Höhe und Tiefe, Abgründen und Bodenlosigkeit spielen. Es gibt Leitern, Sprungbretter, Treppen, einmal sogar eine Abbruchkante. Darf ich daraus schließen, dass Deine Arbeit auch eine Form der Selbsttherapie darstellt?

FK: Sicherlich – auch wenn die Anti-Akrophobie-Selbsttherapie bisher nicht so erfolgreich war, dass ich Freeclimbing bald zu meinen Hobbies zählen werde. Aber es ist schon so, dass meine Arbeit von Themen bestimmt wird, die mit den Gefahren des Lebens und all seinen Höhen und Tiefen zu tun haben. Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste sind hierbei eine wichtige Antriebskraft für mich. Bildelemente wie Leitern, Treppen oder Sprungbretter helfen mir dabei, das menschliche Streben nach Größerem, Höherem, dem Überwinden von Grenzen und die gleichzeitige Angst vor Kontrollverlust und Ungewissheit zu symbolisieren. Mit der von Dir genannten Abbruchkante in meinem Bild Spielabbruch versuche ich, das abrupte Ende eines sicher geglaubten Glücks zu thematisieren. Die Flasche Rotwein steht noch da, das Glas ist gefüllt, aber von einem Moment zum anderen scheint hier viel passiert zu sein. Alles ist vergänglich. Der Fall ins Bodenlose geschieht manchmal schneller als wir uns das vorstellen können oder möchten. Gleichzeitig hat die Szene für mich auch etwas Friedliches; die unschuldig wirkende Wolke am blauen Himmel unterstreicht diese Stimmung. Ich möchte mit meinen Arbeiten immer auch das Scheitern im Leben auf liebevolle Weise betrachten – dann gelingt das Aufstehen nach dem Hinfallen umso leichter.

PL: Einen therapeutischen Schub erfährt auch der Betrachter Deiner Szenen. Sollte ich jemandem, der Deine Arbeiten überhaupt nicht kennt, die Wirkung der Bilder beschreiben, würde ich das Schaukelpferd in Hoppe, hoppe, Reiter heranziehen. Mit kindlicher Lust besteige ich dieses, um ausgelassen hin- und herzuschwingen. Mitten in die kindliche Begeisterung schleicht sich ein Unbehagen. Und das ist dann wiederum ein sehr erwachsenes Gefühl. Denn es wird einem plötzlich klar, wie das Lied weitergeht: »…wenn er fällt, dann schreit er.« Deine Arbeiten spielen mit Ambivalenzen, Spannungen und Widersprüchlichkeiten unseres Daseins und man fühlt sich als Betrachtender merkwürdig herausgefordert. »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, aus dieser Erkenntnis Adornos leitet sich viel Gedankenfutter ab. Auf welche Weise gerät eine Idee in Deinen Kopf und ab welchem Moment erkennst Du, ob diese tatsächlich tragfähig genug ist, um sie so aufwendig, wie Du es tust, in die Welt zu entlassen?

FK: Hin und wieder herrscht in meinem Kopf ein wildes Durcheinander. Dann würde ich am liebsten »Wegen Überfüllung geschlossen« auf meine Stirn schreiben. Meist entscheide ich mich dann aber dafür, etwas innere Ordnung zu schaffen: Ich gönne mir Ruhe, gehe spazieren und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Die kindlichen und erwachsenen Akteure in meinem Oberstübchen dürfen dann miteinander spielen. Daraus entstehen Assoziationsketten und im besten Fall erste Ideen, die ich in meinem Skizzenbuch festhalte. Im Laufe der Zeit kristallisiert sich aus den Entwürfen ganz automatisch heraus, welcher von ihnen für mein nächstes Bildprojekt das Rennen macht. Das passiert intuitiv und wird von meinen Erlebnissen, Beobachtungen oder Erinnerungen beeinflusst, die letztlich für den entscheidenden »Kick« sorgen. Dieser sagt mir: Jetzt kann es mit dem Modellbau losgehen. Eine Idee reizt mich dann so sehr, dass ich neugierig darauf bin zu erfahren, wie aus einer Szene in meinem Kopf etwas Greif- und schließlich Sichtbares wird. Ob das Ganze aber wirklich funktioniert, kann ich oft erst herausfinden, indem ich zunächst die Grundelemente der Miniaturkulisse gestalte und danach die ersten Blicke durch den Kamerasucher werfe. So bekomme ich eine Ahnung von der Wirkung der Bildkomposition. Dabei spielt auch die künstliche Beleuchtung im Studio eine große Rolle, die für die Atmosphäre der Szene sorgt…

Das ganze Interview ist nachzulesen in dem Buch „Carpe Diem“ von Frank Kunert.  Erschienen im Hatje Cantz Verlag, ISBN 978-3-7757-5291-6, 80 Seiten mit 40 Fotos. 20 Euro