Olaf Ballnus – superreal punk

Besprechen

Rausch 1: Die Euphorisierung kommt unmittelbar, ich bin voll drauf. Würde jemand von außen ins Zimmer schauen, böte sich ihm ein skurriles Bild. Ein junger Mann, der auf seinem Bett, das ihm als Bühne dient, auf- und abspringt und Gitarrenspiel imitiert. Ein Freund war von einem England-Schulaustausch zurückgekehrt und hatte mir eine Platte mit „angesagter Musik“ mitgebracht. Das Cover zeigt in billig wirkender Collagen-Ästhetik eine Szene, bei der sich Geier auf einen erschossenen Mann stürzen. Ich setze die Nadel auf die Platte auf und im selben Moment stürzen sich die Geier auf mich. Welch wütender Sound – ich fasse es nicht. Mein Vater klopft an die Tür und befiehlt, die Musik leiser zu machen. Was weiß der schon? Das hier ist gerade der Erweckungsprozess eines schüchternen jungen Mannes, der in der Heideprovinz versauert zwischen quälendem Latein-Vokabel-Lernen und ödem Dorfdisco-Rumgehänge. Das ist die Droge, die Linderung verspricht. Sie heißt PUNK.

Rausch 2: Jemand hat sich auf der Bühne bis auf die Unterhose entkleidet und spielt Gitarre. Auf dem schweißfeuchten Oberkörper spiegelt Scheinwerferlicht, während der Kopf vom Bildrand abgeschnitten ist. Dass es eine solche Nicht-Szene aufs Cover schafft, sagt viel über den Gestus, mit dem sein Schöpfer dieses Buch geschaffen hat. Das vorgeführte, zumeist schwarzweiße Bildmaterial ist rau, grobkörnig, ziemlich düster. Das ist Verweigerung, das ist Punk. Als ich das Buch von Olaf Ballnus aufschlage, breitet sich ein süßes Gift in meinem Körper aus. Im ersten Foto blickt man in den Innenraum eines Kadetts, Kabel hängen aus der Armatur, Kassetten liegen herum, der Aschenbecher quillt über. Die Szene kann ich nicht nur visuell erfassen, sondern auch die Kippen quasi riechen, so vertraut ist mir das alles. Das einleitende Kadett-Foto gibt das Programm vor. Als würde man zu einer Spritztour aufbrechen, die mitten in die Vergangenheit führt. Ein Trip mit Kumpels, der in die Stadt führt, weil jemand von einem aufregenden Konzert gehört hat. Aber man kommt nie an, weil das Auto vorher verreckt.

Nach wenigen Seiten bin ich voll drauf. Ballnus hat das Archiv seiner Jugend durchkämmt. Mit einer geschickt zusammengesetzten Bildfolge gelingt es ihm, ein verschüttetes Lebensgefühl freizuschaufeln. Es gibt Szenen aus besetzten Häusern, Fans bei einem frühen Hosen-Konzert, ein T-Shirt mit provokantem Dieter-Rösner-Aufdruck, wunderbare Porträts der Freunde, ein Konzert von King Kurt. Moment – auf der Tour war ich auch! King Kurt, eine Band, die Mehl, Eier und Kleister übers Publikum ausschüttete. Durchnässt, mit versauten Klamotten torkelte man aus den Konzerten. Das waren Momente, in denen man sich „superreal_punk“ fühlte. Ohne dass ich gegenlenken kann, breitet sich das Gift weiter in mir aus. Auf der Rückseite des Buches steht: Nostalgie ist die Droge des Alters.

Könnte meine Tochter dieses Buch verstehen? Sie würde mich mit großen Augen ansehen, wenn ich von Konzerten erzähle, deren Glück darin bestand, mit klebrigen Flüssigkeiten bespritzt zu werden. Aber dieses Buch ist nicht für meine Tochter gemacht. Sondern für jene, die dabei waren. Für die ist es allerdings ein Muss. Im Nachwort schreibt Olaf Ballnus: „Mit 17 in Bochum eine unerklärliche Stimmung. Man passte nicht so rein und wollte auch nie so sein wie die anderen.“ Das hat in ähnlicher Form bestimmt so auch in meinem Tagebuch gestanden. Egal, ob im Pott oder in der Heide – die Verhältnisse schienen furchtbar spießig, Punk war ein Versprechen und hochgestellte Haare und Nietenlederjacken waren stolz nach außen getragene Zeichen der Abgrenzung.

Ballnus schafft es extrem gut, jenen Punk-Kosmos nachzuzeichnen, indem er Akteure porträtiert und wichtige Anlaufstellen abbildet. Auf der Bühne sieht man die Mimmis und den jungen Henry Rollins. Die Fotos führen zu gegenkulturellen Orten – in den Hamburger Plattenladen Rip Off, zu den Chaos-Tagen in Hannover, ins SO36 in Berlin. Aber die Serie geht darüber hinaus. An vielen Stellen schimmert die Keimschicht durch, aus der Punk entstanden ist. Die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die grautraurige Stadt Berlin ist ein wiederkehrendes Motiv. Ein Schauplatz der Agonie genauso wie des politischen (Häuser-)Kampfs. Kein Ort wirkt unwirklicher als jene geteilte Mauerstadt. Im letzten Foto sieht man den abgestellten Kadett vor einer Großplakatwand: „Die Post verbindet Menschen“. Für einen Moment hatte auch Punk Integrationskraft.

Ich blättere das Buch wieder und wieder, lege das Clash-Album von damals auf und dreh den Regler hoch. Mir fallen wilde Geschichten ein, die ich lange vergessen hatte. Ich lächle in mich hinein. Es klopft an der Tür. Meine Tochter bittet mich, die Musik leiser zu stellen. (Erschienen in Photonews 4.19)

Olaf Ballnus. Superreal_punk. Mit einem Text von Wotan Wilke Möhring. Eigenverlag. ISBN 978-3-00-060470-6. 108 Seiten mit zahlr., teils farb. Fotos. Pb. 25 Euro. Zu beziehen über die Webseite von Olaf Ballnus