Das Ganze beginnt mit einem Akt des Hinauszögerns, bevor die Zerstörung einsetzt. Soll ich oder soll ich nicht? Eine rätselhafte Wundertüte mit Inhalt liegt federleicht in meiner Hand. Die Verpackung ist zugenäht, die Enden der Fäden kitzeln in der Innenfläche. Die Hülle ist bedruckt mit einer leuchtend roten Fläche, die die Anmutung eines japanischen Holzschnitts hat. In die Leerstellen sind eine Vielzahl von Informationen gestempelt, vor allem japanische Zeichen, zwischen denen der Name des Künstlers „Damon Jah“ und die Bezeichnung „Artist“ auftaucht. Alles scheint mit großem Bedacht gemacht und sieht sehr kunstvoll aus, so dass ich die Hülle überhaupt nicht öffnen möchte. Aber was ist darin? Und worum geht es hier genau? Irgendwo findet man auch die Telefonnummer des Künstlers. Und einen Augenblick überlege ich, ob ich nicht mal eben anrufen und fragen sollte: Entschuldigen Sie, Herr Jah, können Sie mir verraten, worum es genau geht – irgendwie verstehe ich gerade nur japanisch.
Tatsächlich müsste man wohl eine andere Nummer wählen. Nämlich die des Herausgebers. Synokrym ist eine Reihe, die es schon seit einigen Jahren gibt und von Kai Cassuben in bester DIY-Tradition erstellt und herausgegeben wird. Synokryme sind Publikationen, oder reden wir lieber von Objekten, zumeist aus Papier, in denen Kai Cassuben all die Seltsamkeiten des Seins, die sich ihm ins Bewusstsein drängen, seine Alltagsbeobachtungen und ästhetischen Erfahrungen zusammenfasst. Immer wieder nimmt er sich aber auch die Freiheit wie in dieser Ausgabe, anderen künstlerischen Positionen einen Ort zu bieten.
Synokrym wird von seinem Herausgeber mit Scharfsinn und Leidenschaft produziert. Jegliche Wiederholung, inhaltlich oder in der Form, ist verpönt. Synokryme erscheinen unregelmäßig und in kleiner Auflage und es wird nie, wirklich nie Werbung dafür gemacht. Wer es erwirbt, kennt den Produzenten gut oder ist gerade am richtigen Ort, wo es angeboten wird. Dann sollte er keinen Moment zögern und zugreifen. Am Ende kann es gut sein, dass er vor Glück tanzen wird. Ich erfahre auf dem Umschlag, dass es gar schon die Nummer 38 ist. Die Fäden kitzeln weiter in der Innenfläche der Hand, noch mehr kitzelt mich die Neugierde. Und während ich überlege, schiebt sich die große Schere auf dem Schreibtisch in mein Gesichtsfeld und ich schnappe sie mir und schneide beherzt auf, während mir ein Zitat von Picasso im Kopf schwirrt: Der Drang zu zerstören ist auch ein kreativer Akt.
Apropos kreativer Akt. Aus der Tüte fällt ein kleines, handgemachtes Booklet mit 23 Fotos. Die Bindung ist japanisch, auch der Block ist wieder genäht. Das verwendete Japanpapier gibt überraschend gut die schwierig zu reproduzierenden Fotos wieder. Diese stammen aus Tokio, dort, wo der Hamburger Fotograf Damon Jah am liebsten unterwegs ist. Seine schwarzweißen Szenen, die für diese Ausgabe ausgesucht sind, charakterisieren sich durch harte Kontraste. In Japan kennt sich Damon Jah aus, ohne Eile lässt er sich durch die Straßen Tokios treiben, wo er immer neue Bilder findet, die letztendlich auch von seinen Annäherungen an das Land und dessen Kultur erzählen. Sein fotografisches Auge richtet sich auf das Besondere im Alltäglichen und umgekehrt auf das Alltägliche im Besonderen. Ein Gesicht, eine Geste, ein Blick, eine bestimmte Pose. Menschen warten an Zebrastreifen. Eine Frau steigt aus einem Taxi. Angestellte hasten durch die Stadt.
Die ästhetischen Besonderheiten der urbanen Kulisse finden dabei immer Eingang in seine Fotos. Damon Jah löst den Menschen aus dem pulsierenden Metropolenszenario, in der vorgegebenen Choreographie des Gewühls arbeitet er dessen individuelle Präsenz heraus. Stereotype Verhaltensmuster des Großstädters, denen wir normal kaum Aufmerksamkeit widmen würden, fordern uns hier zu genauerer Durchdringung auf. Man sieht eine Traube von Menschen, die über die Straße gehen und plötzlich schält sich ein Gesicht aus der Menge. So wird das Betrachten auch immer ein Spiel zwischen Distanz und Nähe. Das Gesicht einer Person kann plötzlich zu einer Projektionsfläche werden, in der der Betrachter eigene Erfahrung wiederzuerkennen vermag. In einer Szene bewegt sich eine junge Frau, abgeschottet mit Kopfhörern, durch die Stadt. Wir würden sie garantiert übersehen, doch in Damon Jahs Foto rührt sie uns, denn ihr Blick oder ihr Nichtblick erzählt uns über die Vereinzelungstendenz des modernen Großstadtmenschen. Eine Taube flattert über einen Bürgersteig, ein vorübergehender Mann zeigt sich völlig unbeeindruckt. Einmal gibt es einen besonderen poetisch-meditativen Moment, bei dem die Aufmerksamkeit des Betrachters durch eine Fensterscheibe geleitet wird, hinter der eine Frau, isoliert von dem sie umgebenden Großstadtfuror, selbstvergessen an einem Kleid näht.
Ein kleines, absolut konsequentes Buch ist so entstanden, äußerst präzise in der Konzeption, das auf jegliches Füllsel verzichtet. Es erzählt über die Bedingungen des Individuums im urbanen Raum, über dessen Sehnsüchte, seine Zerrissenheit, über Identitätsverlust und Einsamkeit. Melancholie schleicht sich immer wieder zwischen die Seiten. Und die wird auch nicht verdrängt durch die Abschluss-Szene, in der ein verliebtes Paar am Betrachter vorbeiflaniert, wobei der Mann seiner Frau über den Po streichelt.
Wunderbares Wundertüten-Buch. Wer noch eines ergattern kann, wird tanzen.
Am 30.11.2018 findet in Hamburg die Ausstellung „Erscheinungen der letzten Jahre“ statt, in der die jüngsten Synokryme und Fotos von Damon Jah präsentiert werden. Enfants Artspace, Pilatuspool 19, Beginn 19 Uhr. Es gibt noch wenige Synokryme 38 (Preis: 30 Euro)