Es gibt kühne Kombinationen und manch abenteuerlich wirkende Ausgestaltung. So wie die im Buch vorgeführten Objekte einen oft wilden Baumaterial- und Stilmix vorführen, der dem Betrachter den Atem stocken lässt, so ist auch das Buch selbst aus Elementen zusammengesetzt, die im Zusammenspiel erst einmal eines tun: irritieren. Das Buch heißt Behelfsheim und ist als Gemeinschaftsarbeit der Fotografen Enver Hirsch und Philipp Meuser entstanden. Und wie der schlichte Titel sagt, es geht um eben jene Behelfsheime, die einst Not-, dann oft Dauerlösungen wurden. So viel sei schon mal vorweg verraten – dieses Buch kitzelt die Neugier, schlägt überraschende Volten, ist amüsant und bleibt trotzdem immer seriös. Und so will man rufen: Die geneigte Leserschaft möge doch bitte hereinkommen ins BEHELFSHEIM, aber Schuhe abtreten nicht vergessen.
1943 wurde ein Großteil des Wohnraums in Hamburg durch die Luftangriffe der britischen Royal Air Force zerstört. Der Reichswohnungskommissar Robert Ley war mit der Einrichtung des Deutschen Wohnungshilfwerks betraut, das Wohnungssuchende mit behelfsmäßigen Unterkünften versorgen sollte. Miniaturheime sollten durch zukünftige Bewohner in Eigenleistung gebaut werden. Für diese Behelfsheime wurden Genehmigungsverfahren vereinfacht, Grundstücke zugeteilt und finanzielle Unterstützung zugesichert. Als zukünftiger Bauherr erhielt man eine Baufibel, eine Anleitung mit Texten und Zeichnungen, die eine einfache Konstruktion mit materialsparenden Lösungen vorsah. In Hamburg entstanden so etwa 40.000 Behelfsheime. Eigentlich nur als temporärer Wohnraum geplant, blieben viele von ihnen aufgrund der schwierigen Wohnungssituation auch in der Nachkriegszeit bestehen, von denen sich ein Großteil in Kleingartensiedlungen befand. Erst nach dem Auszug oder Tod der mit einem lebenslangen Bleiberecht ausgestattet Bewohner sollten die Häuser abgerissen werden.
Diese unbefristete Nutzungserlaubnis, aber auch der Umstand, dass in den NS-Vorgaben der reine Zweckbau und Verzicht auf gestalterische Prozesse propagiert wurde, dazu das im Eigenheim angeeignete handwerkliche Geschick und eine sich immer weiter entwickelnde Heimwerkerkultur beflügelte die Besitzer in den Nachkriegsjahren dazu, eine radikale Umgestaltung bzw. Erweiterung der einheitlichen Erscheinungsform vorzunehmen.
Heute sind die Behelfsheime fast vollständig verschwunden. Das Fotografen-Duo Hirsch/Meuser hat in den letzten Jahren einige verbliebene Behelfsheime in Hamburg aufgespürt und fotografisch festgehalten, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Sie erschaffen ein dokumentarisches Zeugnis von nicht unbeträchtlichem kulturgeschichtlichen Wert. Es ist eine kleine Typologie, in der Grundformen, Ähnlichkeiten und Abweichungen festgehalten sind. Doch Vergleichbarkeit lässt sich fast nicht herstellen, da die Bewohner den einst schlichten Funktionsbauten in unendlicher Varianz ihr Erscheinungsbild aufgedrückt und sie zu ganz eigenen baulichen Charakteren gemacht haben. My Behelfsheim is my castle. Genau das befeuert die Energie der beiden Fotografen. Kein Heim in ihrer Auswahl sieht wie das andere aus. Die Fotografen entwickeln ein feines Sensorium für den speziellen Gestaltungswillen der jeweiligen Bewohner und das zuweilen unerträgliche Spießige oder Rührende, das diese Orte ausstrahlen. Ihr Blick darauf ist groß-, aber nicht bösartig.
Man mag sich kaum vorstellen, wie die beiden Fotografen nervenaufreibende Überzeugungsarbeit leisten mussten, damit die Besitzer ihre Gartentore und Haustüren öffneten, um dann aber schließlich doch mit Stolz ihr Heim vorzuführen. Mal sind die Fassaden mit quietschigen Außenanstrichen aufgehübscht, verkleidet mit Ethernitplatten oder mit der Imitation eines Fachwerks versehen. Es gibt grotesk wirkende An- und Aufbauten, nach und nach zugefügte Elemente wie Gauben, Erker und Extra-Eingänge. So sind die meisten Häuser über die Jahre langsam, aber stetig gewachsen. Ein Wildwuchs, bei dem die Formen, Farben und Materialien die Sinne des Betrachters überfluten. Obwohl die Fotos an keiner Stelle einen Bewohner zeigen, verraten sie viel über selbige. Und umso mehr, wenn die Fotografen schließlich ins Innere dürfen. Auch dort ist die oft unbändige Gestaltungslust ein gefundenes Fressen für die beiden, wenn sie mit ironischem Blicke die abstrusen innenbaulichen Veränderungen festhalten, die von ihren Erzeugern als pragmatische Lösungen begriffen werden. Der Heimwerker frönt seiner Leidenschaft: jede freie Fläche wird vertäfelt, in jeder Nische werden Schränke verbaut. Hier wird noch mal ein Lichtschalter versetzt, dort eine Tapete mit Backsteindekor verklebt. Es sind Räume, in die das Leben ihrer Besitzer eingeschrieben ist, die sich aber allmählich leeren und nie wieder füllen werden. Das macht die Betrachtung oft zu einem etwas melancholischen Vergnügen.
Das raffiniert gestaltete Buch ist mit unterschiedlichen Papieren und Ausklapptafeln ausgestattet und präsentiert ein kühnes Nebeneinander verschiedenster inhaltlicher Elemente. Außerdem haben die beiden Fotografen akribisch jede Menge historisches Zusatzmaterial (u.a. Pläne, Grundrisse, Anleitungen) in ihrem Behelfsheim-Buch „verbaut“. Dazu kommt ein äußerst erhellender architekturtheoretischer Essay über das Behelfsheim und dessen Einordnung in die Architekturgeschichte der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte bis heute. Theorie wiederum wird kontrastiert mit einem übermütigen szenischen Text, in dem heutige Behelfsheimbesitzer auf den Nazi Schergen Robert Ley während einer Podiumsdiskussion treffen.
Doch im Gegensatz zu manch vorgeführtem Wohnobjekt wirkt in diesem Band nichts willkürlich zusammengestückelt. Alle Bauteile dieses Buches fassen präzise ineinander. Füße abgetreten? Dann herein mit Ihnen. Das Behelfsheim der beiden Fotografen ist ein Ort, der zugleich wichtigen Erkenntnisgewinn und großes Amüsement verschafft. Tür zu!
Enver Hirsch/Philipp Meuser. Behelfsheim. Texte von Jan Engelke und Holger Fröhlich & Julia Lauter. 148 Seiten. 21 x 25,5 cm. Foliengeprägtes Leinen-Flexcover. ISBN 978-3-00-065630-9. Preis 35,00 € (zu beziehen über www.behelfsheim.com)
Die Ausstellung „Behelfsheim“ läuft in der Freelens Galerie bis zum 17. Dezember.