Noch ist Polen nicht verloren. Doch drohen wir uns zu verlieren. Unmittelbar dann, wenn wir in die verrätselte Welt des Vincent Kohlbecher eintreten. Its Flower Is Hard To Find. Der Titel verweist auf eine Orientierungslosigkeit, mit der der Fotograf bewusst spielt. Dessen neuer Arbeit, die jetzt im Buch erscheint, ist ein Exzerpt aus einem polnischen Märchen vorangestellt. Als Hans in den Wald kommt, verspricht ihm eine unsichtbare Stimme Reichtum, wenn er alle Widrigkeiten dort überwinde und eine bestimmte Blume pflücke. Also macht sich der Angesprochene auf die Suche.
Auch wir als Betrachtende begeben uns auf Suche. So fragen wir zunächst nicht nach der Bedeutung der vorgefundenen Szenen, sondern lassen uns auf die sinnliche Dimension ein und erfreuen uns an den traumhaften, eindringlichen Situationen. Ein wenig wundersam scheint es, dieses Polen, wie es uns vorgestellt wird. 2014 geht Kohlbecher mit seinen Studenten auf Exkursion nach Krakau. Das ihm fremde Land weckt seine Neugier und bietet viele verrätselte Momente, die er fotografisch festhält. Am Ende wird er 13 weitere Mal dorthin reisen, bevor die Serie steht.
Zuerst ist das Ei da. Die Arbeit beginnt mit einem meterhohen grünen Ei, das mitten in einen Warschauer Park geplumpst zu sein scheint. Furios geht es weiter. Ladenscheiben, in denen es merkwürdige Paarungen gibt: Puppen, die Brautkleider vorführen, darüber schieben sich gespiegelte Häuserfassaden. Keine Orientierung, nirgends. Ein Pelikan, der die Flügel streckt. Eine gigantische Papststatue. Reglos liegende Personen zwischen Gestrüpp. Ein schwarzer Schwan in einem erleuchteten Fenster. Wir sind bei einer Hochzeit dabei, einer militärischen Gedenkfeier oder einem Aufmarsch der Rechten. Eine Nonne blickt einem Schienenverlauf nach. Es geht ein Zug nach Nirgendwo.
Eigentlich könnte es reichen, wenn wir uns einfach von der vorgeführten Welt verzaubern ließen. Doch die Arbeit des Fotografen will mehr. Es ist wie mit der beschriebenen Glasscheibe, die reflektiert. Wer genau schaut, erkennt das Dahinter. Noch ist Polen nicht verloren. Wie kaum ein anderes Land hat es im 20. Jahrhundert eine wechselhafte Geschichte erlebt: die mit dem Vertrag von Versailles wiedererlangte Souveränität, der Einmarsch der Deutschen zu Beginn des 2. Weltkriegs, die katastrophalen Folgen der Besetzung, die sich anschließende Ära des Kommunismus, der Systemwechsel 1989, die Zeit nach der Wende, in der es gelang, moderne demokratische Strukturen zu schaffen und der EU beizutreten, ein deutlicher Rechtsruck seit ein paar Jahren.
Das sind Themen, die in den Fotos sedimentiert sind. Alles ist viel durchdachter als man es zunächst annimmt. Der Fotograf fordert uns heraus mit dem Ungefähren, dem Indirekten, der Assoziation, dabei ein bestimmtes Grundverständnis voraussetzend. Dann werden Orte plötzlich als geschichtsträchtig erkannt, Gedenkstätten und Ehrenmale stehen für wichtige Geschichtsphasen. Fotografierte Protagonisten vertreten relevante Gesellschaftsgruppen. Und Schienen sind natürlich nicht einfach unschuldige Schienen. Die Züge sind nicht nach Nirgendwo gerollt, sondern in das Grauen des Todeslagers Auschwitz. Durch formalästhetisch und inhaltlich wiederkehrende Elemente schafft er raffinierte Verbindungen. Einmal sieht man einen Haufen leerer Zementsäcke, die an abgelegte Kleider erinnern. Gleich daneben ist ein Foto mit aussortierten Glaskästen, abgestellt in einem Garten. Man zieht Verbindungen zu den Glasvitrinen im Ausschwitz-Museum, in denen Hinterlassenschaften der grausam Ermordeten dokumentiert sind. So lässt Kohlbecher den Betrachter manch gedanklichen Salto vollführen. Doch bei allem geht es auch um die eigene Haltung, wie er verrät. „Beim dritten oder spätestens vierten Aufenthalt in Polen kam ich zu der Erkenntnis, dass ich nicht wegen der Straßenfotografie unterwegs war, sondern instinktiv nach Bildern aus meiner Kindheit suchte.“ Die eigene Kindheit, seine Prägung durch den Katholizismus, eine empfundene historische Verantwortung. Man spürt deutlich, dass Kohlbechers Fotos immer einen Moment der Selbstreflexion beinhalten, doch auch wir als Betrachter sind auf uns zurückgeworfen.
Irgendwann wird man auf die Blume stoßen, die nicht etwa in fotografierten Grabgestecken oder auf dem Musterhemd eines jungen Mannes, der sich mit einer Frau auf dem Boden wälzt, steckt. Sie ist besser verborgen. Hans findet sie, auch wenn es für ihn schlecht ausgeht. Für uns ist es anders. Wer genau schaut, wird reich belohnt. (erschienen in Photonews 2/21)
Vincent Kohlbecher. Its Flower Is Hard To Find. Mit Gedichten von Wislawa Szymborska. Hartmann Books. ISBN 978-3-96070-056-2. 104 Seiten, 55 Fotos, 22 x 31 cm, geb. 38,00 €