Anders Petersen – Schläge ins Gesicht und Schulterklopfen

Besprechen

Ist man mit ihm unterwegs, ereilt einen das Gefühl, als könne er Menschen zum Leuchten bringen. Einmal saß ich mit Anders Petersen in einem Restaurant. Ein todernster Kellner und seine sehr steife Kollegin bedienten uns. Alles war sehr förmlich. Doch Anders gelang es auf Anhieb, die richtige Ansprache zu finden und die Bedienung aus der Reserve zu locken. Er ist den Menschen so zugewandt, dass diese nicht anders können und sich öffnen. Als Fotograf kann er das nutzen, aber er nutzt es nicht aus. Als wir nach einem schönen Abend aufbrachen, schenkten die Service-Leute uns nicht nur ihr breitestes Lächeln, sondern verabschiedeten uns mit freundschaftlichem Schulterklopfen.

In diesem Sommer ist Stockholm in einem doppelt gemeinten Sinn eine Reise wert. Wer demnächst in der nordischen Hauptstadt ist, sollte sich keinesfalls die Gelegenheit nehmen lass, die schlicht mit „Stockholm“ betitelte Soloshow von Anders Petersen zu besuchen. Ganze vier Jahren hat der schwedische Fotograf dazu intensiv am Porträt seiner Heimatstadt gearbeitet. Das Ergebnis wird derzeit in der altehrwürdigen Kunsthalle Liljevalchs präsentiert, einem so riesigen wie aufregenden Ausstellungsort. Entstanden ist eine aus der Museumsgröße und Bildmenge resultierende radikale Präsentation, die den Besucher überwältigt. Es gibt 11 Räume, mal klein und intim und große Säle, die alle mit einer Vielzahl von Fotos geflutet sind. Immer wieder ist Anders dazu durch die Stadt gestreift und hat Orte und Situationen, aber vor allem Stockholmer, die völlig unterschiedlichen Lebensentwürfe folgen, abgelichtet. In den Fotos entfaltet sich ein Kosmos urbanen Lebens, ein Kaleidoskop verschiedener menschlicher Sehnsüchte, Hoffnungen und Träume. Anders Petersen blickt auf kluge und fast zärtliche Weise in ganz unterschiedliche Milieus. Menschen, die er auf der Straße trifft, auf Partys, in Nachtclubs, an privaten Orten. Auf einem Foto ist selbst die schwedische Kronprinzessin zu sehen, völlig anders, als man sie kennt.

Anders Petersen erzählt eine Geschichte über Stockholm und seine Bewohner, doch viel mehr noch ist es eine Geschichte über die grundlegenden Bedingungen des menschlichen Daseins. Als Besucher wird man durch die Ausstellung mäandern wie durch eine riesige Menschenmenge. Immer wieder ziehen dann einzelne Porträts die Aufmerksamkeit auf sich. Es ist, als habe jeder der präsentierten Figuren seine ganz eigene Story zu erzählen.

Petersen sei ein so vielschichtiger Fotograf und das sei der Grund, warum die Ausstellung so riesig geworden sei. So äußert sich der Kunsthallenchef Mårten Castenfors vor kurzem in einem Interview mit dem schwedischen Sender SVT. Und er schlussfolgert: Für den Besucher solle die schiere Bildmenge wie ein Schlag ins Gesicht sein. Vielleicht kann man es so formulieren: Der, der bereit ist, sollte Zeit mitbringen, um sich durch die Ausstellung mit über 500 Bildern durchzuarbeiten. Vielleicht ist sie ein Schlag, vielleicht auch eine Umarmung. Eines ist klar: Kalt lassen wird sie einen bestimmt nicht.

Nur einen Steinwurf entfernt von Liljevalchs befindet sich Gröna Lund, ein innerstädtischer Vergnügungspark, den Anders Petersen für sein allererstes Buch 1973 fotografiert hat. Ein urbaner Mikrokosmos in Stockholm, in dem schon damals die besondere Herangehensweise des Fotografen, sein besonderes Gespür für die Städter und ihre Umstände klar erkennbar wurde. Als eigenständiges Sujet hat Anders Petersen seine Heimatstadt bisher links liegen gelassen. Verwunderlich, gibt es doch zahlreiche City-Diaries von ihm. Eine befreundete Kuratorin hatte ihn und das Thema dem Museum ohne sein Wissen vorgeschlagen, das sofort interessiert war. Als die Anfrage kam, war Anders total überrascht. Er zögerte lange, zu groß schien ihm das Projekt, am Ende sagte er aber zu.

Was charakterisiert die Stadt für jemanden, der dort fast sein ganzes Leben gelebt hat? „Für mich geht es in der Stadt allein um Menschen, nicht um Straßen und Häuser. Die Vielfalt der Menschen, die Verwirrung, die verschiedenen Sprachen und all die Widersprüche, von denen wir geleitet sind. Genau das ist es, worin ich die guten Vitamine entdecke. All die grundsätzlichen menschlichen Fragen, die uns umtreiben, stecken immer auch in mir“, schreibt mir der Fotograf.

Mit der anfangs aufgezeigten Fähigkeit erreicht er spielend, Leute zu überreden, sich von ihm ablichten zu lassen. In der Petersen-Welt findet man Akteure mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen Hintergründen oder sexuellen Orientierungen, die sich öffnen und schließlich zu leuchten beginnen. Im Ergebnis berichten die Bilder nicht nur von dem speziellen Moment der jeweiligen Begegnung, sie weisen oft weit darüber hinaus. Wenn einer hinter die Oberfläche der Menschen blicken kann, dann Anders Petersen und vielleicht erkennt er, in dem, was er sieht, immer auch ein bisschen sich selbst.

Ein Mann, der auf dem Tisch tanzt, eine Geburt im Krankenhaus von Danderyd, vier junge Anzugsmänner auf der Schulabschlussfeier. Ein Hund, der aus der Bodenperspektive aufgenommen ist. Ein symbolisches Bild – hier zeigt sich deutlich der Anspruch, der für den Fotografen gilt und der mich so einnimmt für seine Arbeiten: die Augenhöhe mit dem Gegenüber.

Die Bilder von Anders Petersen setzen etwas frei im Besucher. Wenn dieser aus der Ausstellung tritt, wird er lächeln und wildfremden Menschen auf die Schulter klopfen wollen. Sein Blick auf die Stadt und Bewohner wird definitiv ein anderer als vorher sein.

Weitere Infos siehe: www.liljevalchs.se

Die Ausstellung läuft bis zum 1. September 2019. Ein Ausstellungskatalog ist im Verlag Max Ström erschienen.