Sie kommen zu Besuch. Ein endloser Strom von Touristen, fünfundzwanzig Millionen pro Jahr. Sie geben dreizehn Milliarden Dollar aus und sichern 400000 Arbeitsplätze. Sie werden von Ruhm, Reichtum, Glamour, und Sonne angelockt und füllen jede Nacht 100000 Hotelzimmer, ihr Strom reißt nie ab. (James Frey, Strahlend schöner Morgen)
Einer von ihnen ist Janko Woltersmann. Er kommt regelmäßig. Schon 2004 war er das erste Mal da. Und jetzt schiebt er sich wieder mit seinem Auto durch den zähfließenden Verkehr. Vielleicht über den Santa Monica oder den Sunset Boulevard. Als er an einer Ampel steht, dreht er am Senderegler des Radios. Plötzlich ertönt die Crooner-Stimme des vielleicht größten Sängers Amerikas aus dem Lautsprecher: „The music she moves to, is music that makes me a dancer.“ Er stellt lauter und irgendwann fällt er in den Refrain ein:
„When I’m back in her arms/She smiles and then I am home again/’Cause L.A. is my lady“
Frank Sinatra hat recht. Die Stadt bringt Janko sofort zum Tanzen. Als er ankommt, hat er wie alle Fremden unzählige innere Vorstellungsbilder von Los Angeles im Kopf, sein Bild ist geprägt von einer medial vermittelten Wirklichkeit, gefüttert aus Filmen, aus Hip Hop, aus Literatur, Comics, nicht zuletzt aus der Fotografie. Doch während der Abgleich von Vorstellung und realen Ereignis oft ernüchternd ist, berauscht ihn die Stadt völlig. L.A. is my lady. Anders als diejenigen, die etwas von dem typischen Glanz erhaschen wollen und vielleicht einen der Stars zu sehen erhoffen, der sich natürlich gerade nicht zeigt, hat er ein abweichendes Ziel.
Zwar ist auch unser Fotograf ein glühender Verehrer des Films „The Big Lebowski“, der in L.A. spielt. Daraus den „Dude“ zu treffen – klar, das wäre für ihn absolut das Größte. Aber er ist Realist! Tatsächlich trifft er lieber eine Verabredung mit einer anderen Berühmtheit.
„La Brea“ heißt sie und ist eine Ikone, die mit ihrer extravaganten Farbigkeit einen enormen Anziehungseffekt auf den Fotografen ausübt. Obwohl älteren Jahrgangs ist sie kein Stück in die Jahre gekommen. Janko hat sie seit seiner ersten Begegnung nicht vergessen können.
„La Brea“ ist ein Foto des Amerikaners Stephen Shore, das 1975 eher auf Unverständnis stieß, hebelte es doch in seiner spröden Inhaltlichkeit alle Seherwartungen aus. Heute gehört es –wie andere New Color Arbeiten – zum Kanon der Fotografie. Darauf zu sehen ist eine Chevron-Tankstelle an der Kreuzung von La Brea Avenue und dem Beverly Boulevard. Tatsächlich ist Shores Aufnahme ein verdichtetes Konstrukt aus architektonischen Gegebenheiten des urbanen Raums. Ein paar Schilder, Ampeln, Autos, Werbebotschaften, umströmt vom warmen Licht des Himmels. Der Ereignisgehalt des Bildes ist radikal runtergefahren, seine Komposition aber so angelegt, dass sich eine Ordnung im Durcheinander zeigt. Dass gerade die Akzentuierung des Gewöhnlichen ein sehr dezidierter Kunstgriff sein kann, zeigt sich in dieser Farbarbeit von Shore. Das Bild war Teil eines Projekts „Uncommon Places“, bei dem der Fotograf damals durch die USA reiste und seine Kamera auf Parkplätze, Telefonzellen, Straßenecken, Tankstellen, Schaufenster, Schrifttafeln, Autos oder aber Hotelzimmer richtete.
Unser Fotograf Janko kennt nicht nur das La Brea-Tankstellen-Foto, er kennt die gesamte Serie sehr gut und hat die Ikonographie der Shore-Bilder genauestens studiert. Es sind die Sujets, die auch schon seit vielen Jahren in seine eigene Arbeit Aufnahme gefunden haben.
Jetzt kämpft er sich durch den Verkehr in freudiger Erwartung. Er ist er nur noch ein paar Hundert Meter von der berühmten Kreuzung entfernt und hält am Straßenrand, um den Wagen zu parken. Es ist nicht erste Mal, dass er heute hier ist, es gab schon eine frühere Begegnung mit der Chevron Tankstelle, die allerdings unter einen schlechten Stern gestanden hatte. Der Himmel war betongrau, ein Auto war in der Auffahrt der Tankstelle liegengeblieben. Hinzu kam, dass Janko gerade die Nachricht vom Abriss der Bowlingbahn seines geliebten Dude erhalten hatte. Schlechte Voraussetzungen zum Fotografieren! Janko verdrückte sich stattdessen in ein Burgerrestaurant. Zu widerspenstig hatte sich der Ort gezeigt. Ein Foto wollte keinesfalls dabei abfallen.
Doch jetzt nimmt er seine Kamera vom Sitz und steigt aus. Vielleicht lässt sich heute ein Bild von der großen alten Chevron-Dame machen. Hier hatte Stephen Shore also in den siebziger Jahren sein Stativ aufgestellt und seine Großformatkamera darauf aufgebaut. Farbfilm war damals ein langsamer Film und das Arbeiten mit einer Großformatkamera erst recht nicht mit dem schnellen Reagieren auf den „decisive moment“ zu vergleichen, wie es mit Kleinbildkameras damals möglich war.
Aber Janko hat weder eine Großformat- noch Kleinbildkamera im Gepäck. Er nimmt die Kamera, die er, seit dem ich ihn kenne, oft bei sich hat und wunderbar beherrscht. Immer wieder denke ich, Janko geht wachen Blicks durch diese Welt und filtert seine Eindrücke schon ganz automatisch im 7,9 x 7,9 Format und mit einem weißen Rahmen drum herum, auf dem sich, wenn notwendig, noch eine persönliche Notizen vermerken ließe. Der Fotograf benutzt also seine SX-70, eine Sofortbildkamera, die fast zur gleichen Zeit auf den Markt kam, als Shore seine berühmte Aufnahme machte. Ausgerechnet eine SX-70, die er in Los Angeles mit seinen überbordenden visuellen Verlockungen zum Einsatz bringt statt einer digitalen Kamera, die einen Heißhunger nach unendlichen Bilderreihen spielend befriedigen könnte. Ausgerechnet eine SX-70, die ein genaues Abwägen notwendig macht (denn zu viel Ausschuss kann irgendwann teuer werden). Der unverhandelbare Unikat-Charakter, die direkte Teilhabe am Werdeprozess, das Unkontrollierbare, all das hat unseren Fotografen an der Polaroidfotografie schon immer fasziniert und ihm ist damit das geeignete Medium in die Hand gelegt, um den Prozess des Zitierens ironisch zu hintertreiben. Denn Shores Fotografie ist in der allgemeinen Rezeption aufgegangen, sie ist uns vertraut. Anders ausgedrückt: die „Uncommon Places“ haben sich heute zu Allgemeinplätzen der Fotografie gewandelt. Aber wie soll man seinem Vorbild huldigen oder neues hinzufügen, ohne dessen Gestus langweilig zu repetieren? Eine andere apparative Vorgehensweise kann da Abhilfe verschaffen. Für Janko fühlt sich die Kamera für diesen Einsatz genau richtig an. Lakonisch stellt er fest, dass die Polaroidfarben wunderbar zur Stadt passen.
Er geht die letzten Schritte zur Tankstelle und ist damit beschäftigt, das Auratische der fotografischen Vorlage nachzuempfinden. Er marschiert auf und ab, ein wenig nervös. Er könnte sich den gleichen Aufnahmestandort aussuchen, um von dort sein Foto zu machen. Und wir werden dann später als Betrachter angehalten, die jetzigen Gegebenheiten mit denen von Shore abzugleichen. Aber Janko Woltersmann ist zu schlau, um sich von dieser offensichtlichen Offerte einfangen zu lassen. Der Chevron Schriftzug prangt uns entgegen. Die Pfeiler der Tankstelle werfen lange Schatten. Der Fotograf nähert sich von einer anderen Seite, er formt seine ganz eigene Szene. Lange überlegt er, dann sieht er einen Mann, der über die Tankstelle läuft, in der Hand einen weißen Plastikbeutel. Der Mann ist schon zu weit weg, um das Surren der Kamera zu hören, als diese das Polaroid auswirft.
Der Fotograf salutiert der Tankstelle zum Abschied und steigt in sein Auto. Der Besuch der alten Dame Chevron liegt hinter ihm und irgendwie ist er erleichtert. Nach der Pflicht kommt die Kür. Er lässt sich treiben auf den Straßen, ein motorisierter Flaneur, ohne wirkliche Eile, er hält immer wieder am Straßenrand, steigt aus, nimmt etwas im El Pollo Loco oder in der Dairy Queen zu sich, schaut sich um, fotografiert, fährt dann weiter. An einer Scheibe ist in goldenen Lettern zu lesen: La Brea. Und so, wie die goldenen Buchstaben glänzen, gibt sich die Stadt als ein einziges leuchtendes Versprechen. Tagsüber die fast unerbittliche Sonne, nachts die Myriaden von Leuchtreklamen, Autoscheinwerfern, Straßenlaternen. Auf einem Schild wird uns Joy versprochen, an anderer Stelle Pleasure. Oder Free Inspection, New Design Funiture, Shakey’s heißt uns willkommen, wer will, kann sich auch vom Angebot „Girls, Girls, Girls“ leiten lassen, alles 24 hours , 7 days a week –der Rhythmus dieser Stadt ist treibend, wer sich auf ihn einlässt, braucht gute Kondition und Flüssiges. Need Cash? fragt eine andere Schrift an einer Scheibe und weist den Weg zum Geldautomaten. Und wer es am Ende gar etwas zu doll getrieben hat, dem verspricht ein Billboard in der Dämmerung Katharsis: Jesus Saves…
Immer wieder hört man das Surren der SX-70. Janko weiß genau, wen oder was er in den Sucher seiner Kamera nehmen will, um seine Version dieser Stadt zu erzählen. Seine Fotos sind unaufdringlich und fern von jeglicher überspitzter Expressivität. Das, was er festhält, sind auf den ersten Blick Stereotypen urbaner Alltäglichkeiten, die für viele von uns gar nicht erst als bildwürdig betrachtet werden, gleichgültig würden wir an ihnen vorbeigehen. Erst die tiefere Bildbeschäftigung enthüllt die besondere Eigenart der Stadt, ihre unausweichliche Spezifität. Seine Fotografie gibt sich dokumentarisch-erzählerisch, doch den entscheidenden Moment, der sich ihm bietet, lässt er in den meisten Fällen bewusst erst einmal vorüber streichen. Von dem Gebot der Zuspitzung befreit, drückt er auf den Auslöser.
Ein zerstörter Pappkarton, einst ein Behältnis für Kartoffeln, liegt als Unrat auf dem Boulevard. Ein herrenloser Hund streift an einer Mauer entlang. Ein Einkaufswagen ist achtlos auf einem Bürgersteig abgestellt. Wenn sich die urbane Glamourösität auch als etwas schäbig entpuppt, so geht von diesen Bildern eine eigenartige Ausstrahlung aus, die den Betrachter verführt, genauer zu schauen und sich dazu zu verhalten. Vielleicht etwas mehr zu entdecken, als wir selbst in der Betrachtung der Welt zu sehen vermögen, das macht die große Qualität von Janko Arbeit aus. Die Farben der Reklametafeln sind verblichen, eine Tüte liegt neben einem Hydranten, auf den Bürgersteigen wuchert das Unkraut zwischen den Platten.
Aber es gibt auch ganz andere Bilder: Einmal sieht man eine Frau, die in einen Swimmingpool steigt, oder das Interieur eines Hotelzimmers, oder der Zuckerstreuer auf dem Tisch eines Diners. All das sind intelligent-vergnügliche Anspielungen auf die Arbeit von Stephen Shore, die man aber überhaupt nicht kennen muss, um die fotografische Arbeit von Janko zu goutieren.
An verschiedenen Stellen bietet er uns eine Perspektive entlang der Boulevards, die eine enorme Tiefe in den Raum weisen, flaniert von den architektonischen Gegebenheiten der Stadt. Das Ganze erhält den Charakter von Bühnenbildern oder -ein passenderer Terminus- von Filmlocations. Eines meiner Lieblingsbilder zeigt eine Frau, abgekehrt von uns, Ihre Hand hat sie über ihre Augen als Blendschutz gelegt. Sie schaut über die menschenleere Straße auf etwas, dass außerhalb unseres Sichtfeldes liegt. Janko lässt dem Betrachter Raum, seine eigenen Imaginationen in das Foto einzuschreiben. Im Hintergrund ist ein Schnellrestaurant. Das Kabel eines Strommastes bildet einen Bogen vor dem blauen Himmel und den Palmen. Wer mag, wird dort eine kleine Partitur am Himmel erkennen. Leise schwingt ein ganz eigener, traumverlorener Sound durch Jankos Bilder.
Ein territorial und in seinen Angeboten ausuferndes Los Angeles, wie es in meiner gelesenen Einleitung ja ziemlich eindrücklich beschrieben wurde, erschließt sich ausschließlich dem, der es im Auto durchquert. Die Stadt ist eine Erfahrung und das meine ich im ganz wörtlichen Sinn. LA ist nichts, wenn du kein Auto hast, schreibt Cees Noteboom. In der Fahrt drängt sich alle disparate Stadtgeografie zu einem Ganzen. Und so geht es mir mit diesen Arbeiten, die hier groß reproduziert und so nebeneinander gestellt sind, dass die Inhalte fast ineinander blenden. Jankos Arbeit verdichtet sich geschickt zu einem Ganzen, einer Geschichte oder –in diesem Kontext passender- zu einem Film, der im Kopfkino des Betrachters auch nach dem realen Abspann weiterläuft.
Nun, für heute hat er genug. Aus dem Autoradio ertönt einer der unzähligen Liebessongs an diese Stadt, als er sich auf den Rückweg macht. Er ist zufrieden mit seiner Ausbeute und freut sich auf ein gekühltes Sierra Nevada Pale Ale, das im Hotel auf ihn wartet. Seine Polaroidkassetten sind allesamt verknipst.
Oder- Nein, ein einziges Bild hat er noch, ein Bild behält er immer.
Vielleicht wird er gleich an einer Ampel halten und ein Mann mit Sonnenbrille und langen strähnigen Haaren, mit einer geschmacklos gemusterten Hose und merkwürdiger Strickjacke wird über die Straße schlürfen. Janko will was rufen, aber er kann plötzlich nicht, die Stimme versagt ihm, ääh…also kurbelt er hektisch das Fenster runter, die laute Musik, die nach außen dringt, macht den Vorbeigehenden aufmerksam und der dreht sich langsam zu ihm, nimmt die Brille ab und lächelt Janko verwundert zu. Das letzte Polaroid ist für den Dude bestimmt!
Eine Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung „thirteen thirteen“ von Janko Woltersmann in der Nord/LB art gallery Hannover im September 2016.